NATÜRLICH, EHRLICH UND KLAR – INTELLIGENTE PFERDE

„Die Intelligenz der Pferde“, so lautet der Titel von Marlitt Wendts neuem Buch, indem sie den Menschen das Lernverhalten, die Psyche, das Denkvermögen und die Natur des Pferdes näher bringen möchte. Ein Buch mit einer Botschaft, die man wie folgt zusammenfassen könnte: Bitte mehr Verständnis für unsere equinen Lebenspartner, mehr Sensibilität und mehr Einfühlungsvermögen in das Wesen Pferd, denn es lohnt sich!

Liebe Marlitt, was verbirgt sich hinter dem Forschungsbegriff „Ethologie“ des Pferdes?

Pferdeethologie ist die wissenschaftliche Disziplin vom Verhalten der Pferde. Gewissermaßen sind Verhaltensbiologen wie ich auf der Suche nach dem „Warum?“ im Verhalten der Pferde. Wir interessieren uns dafür, was genau ein Pferd dazu bringt sich so oder so zu benehmen. Was fühlt es in welcher Situation? Wie können wir es besser verstehen und stärker auf seine Bedürfnisse eingehen? Die Ethologie geht der Frage nach der Natur des Pferdes nach und möchte Antworten finden, wie Pferde am liebsten Leben wollen, was sie bewegt und wofür sie sich interessieren. Dabei finden Verhaltensbiologen zusammen mit spezialisierten Tiertrainern immer mehr darüber heraus, wie Pferde lernen und wie wir uns ihnen verständlich machen können ohne dass wir traditionelle, druckbasierte Pferdetrainingsmethoden anwenden müssen.

Wie bist Du aufs Pferd gekommen? Wie sieht Dein Werdegang mit Pferden aus?

Seit ich denken kann träume ich von Pferden. Mit drei Jahren fütterte ich liebend gerne Ponys, saß zum ersten Mal auf dem Pony von Bekannten meiner Eltern und mit fünf Jahren begann ich mit regelmäßigem Reitunterricht. Wichtig war mir besonders der Kontakt zu den Pferden, das Entdecken ihrer Persönlichkeiten und im Gegensatz zu vielen anderen Reitschülern nicht das erfolgsorientierte Reiten. Ich suchte schon früh nach Alternativen im Umgang, nach Beschäftigungsmöglichkeiten, ohne dass man immer auf dem Rücken des Pferdes sitzt und begann als Jugendliche bei meinen Pflegeponys mit Belohnungen und dem Einsatz von Leckerlis zu experimentieren. Mit 18 Jahren kaufte ich mein erstes Pony Maraschino von meinem ersten selbstverdienten Geld. Er war der Sohn meiner damaligen Reitbeteiligungsstute und begleitete mich sein ganzes Leben lang. Mit ihm ging mein Weg zu den pferdefreundlichen Ausbildungsmethoden weiter. Angeregt durch das Wissen aus meinem Studium der Verhaltensbiologie und den unterschiedlichen Theorien und Techniken zum Lernverhalten entdeckte ich durch den Kontakt zu einer neuen Freundin das Clickertraining. Ich übte viel und stellte auf diesem Wege fest, dass es noch so viel zu entdecken gibt und dass es viel mehr gibt, was wir von den Pferden lernen können als andersherum.

Pferde sind für mich die wahren Lehrer, die Professoren nach denen sich alles in mir richtet. Ich bin ein ewiger Student der Pferde. Wer hat Dich gelehrt was Du heute weitergibst?

Das geht mir genauso: Die Pferde selbst sind die wahren Lehrer. Sie zu beobachten, zu analysieren, ihre Verhaltensweisen zu verstehen oder ihre Mimik zu beschreiben bringt oft mehr als den Lehren anderer Menschen zu folgen. Ich versuche meinem Gefühl zu folgen, probiere Dinge aus und erweitere grundlegende wissenschaftliche Konzepte nach meinen eigenen Bedürfnissen. Besonders intensiv lerne ich dabei natürlich von meinen eigenen Pferden, allen voran von meinem ersten inzwischen verstorbenen New-Forest Pony Maraschino und meiner vom Tierschutz stammenden Shettystute Polly und meiner Haflingermix-Dame Chihiro, genannt Mausi. Sie alle sind vom Wesen her so grundlegend verschieden, dass ich von ihnen jeweils sehr unterschiedliche Dinge gelernt habe. Maraschino etwa hat mir gezeigt, dass man nur dem Herzen folgen kann, Polly hat mich gelehrt dass man auch dann ein starkes „Wir“ bilden kann, wenn jeder ein großes „Ich“ besitzt und von Mausi lerne ich täglich, was es wirklich bedeutet, auf einer Gefühlsebene zu kommunizieren.

Daneben haben mir die vielen, vielen Pferde meiner Kunden, die ich auf den Seminaren oder in der Ausbildung begleiten darf, unvergleichliche Einblicke in die Vielfalt des Pferdeverhaltens und die unterschiedlichen Pferdepersönlichkeiten gegeben. Mit ihnen wird schnell deutlich, wie man eine wirkliche Bindung aufbauen kann und miteinander lernt.

Mein Fachwissen zur Verhaltensbiologie habe ich in meinem Studium an der Universität Hamburg angeeignet. Über wissenschaftliche Fortbildungen, Seminare und Fachbücher frische ich mein Wissen ständig auf und erweitere meinen Horizont.

Marlitt und Schino, ihr Herzenspony.

Marlitt und Schino, ihr Herzenspony.

Ganz persönlich: Gibt es oder gab es für Dich die wahre große Liebe zu einem ganz besonderen Pferd? Eines, welches Dich aus welchen Gründen auch immer komplett mitnahm?

Sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart gibt es Pferde zu denen ich eine ganz besondere Beziehung habe oder hatte. Das sind heute meine beiden eigenen Stuten Polly und Mausi mit ihren ganz individuellen Charakteren. Mein einmaliges Herzenspony war mein 2011 verstorbener Maraschino. Er hat sich schon als Fohlen für mich entschieden, an dem Tag an dem wir uns das erste Mal kurz nach seiner Geburt mit seiner Mutter Pamela gesehen haben. Wirklich kennen gelernt habe ich ihn dann 1994 als Zweijährigen bei seinem Züchter. Zu dieser Zeit habe ich seine Mutter Pamela und seine Schwester Patz als Reitbeteiligungs- und Pflegponys gehabt. Ich erinnere mich schon an unseren ersten gemeinsamen Tag, als er aus der Herde heraus zu mir gekommen ist und sich neben mich gestellt hat, als würde er dort hingehören. So blieb es auch, wenn ich mich mit seiner Schwester beschäftigt habe, er folgte uns auf dem Reitplatz, stand beim Putzen direkt neben mir mit dem Kopf auf meiner Schulter und eroberte mit seiner unbekümmerten, verspielten Art mehr und mehr mein Herz. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit sollte sein ganzes Leben lang so bleiben.

1996 kaufte ich ihn schließlich als mein erstes eigenes Pony. Alle Wege standen uns noch offen. Und ich wollte mich gemeinsam mit ihm auf einen „alternativen“ Weg begeben, da ich mit dem „Pressure-Release“-System, das ich als Kind in Reitschulen gelernt hatte, nicht zufrieden war. Also versuchte ich bei seiner Ausbildung, mein Wissen über die Jungpferdeausbildung mit modernen Ideen zu verbinden. Das Problem war nur: ich wusste zunächst nicht so recht, wie. Immer wieder merkte ich, dass zwar alles klappt, aber es dennoch nicht genau das war, was ich mir erträumt hatte. Ich glaube, Schino hat mir gezeigt was es war: Wir haben uns am Boden blind verstanden, solange ich nicht konkret ein Ziel vor Augen hatte und daran festgehalten habe. Er hat mir gezeigt, dass mein Wollen mich nur dann glücklich gemacht hat, wenn wir es gemeinsam wollten. Schon beim ersten Aufsteigen ganz ohne Sattel und Zaumzeug auf der Weide war dort dieses gemeinsame Einvernehmen, Schino hat sich nach meinem Bein umgesehen, mir ins Gesicht geschaut und sich dann weiter dem Grasen gewidmet. Diese Harmonie war es, die ich für unser Leben wollte.

Ich begab mich also auf die Suche. Zunächst dachte ich, unser Glück würde in einem Wechsel der Reitweise liegen. Die klassische Lehre der alten Meister gab mir technisch viele neue Impulse. Hier habe ich viel über den „richtigen“ Moment, die Koordination der Hilfen und über meine Körperbeherrschung gelernt. Aber eines fehlte immer noch: Wie komme ich auch beim reiten ohne Druck aus, so wie ich es vom Spiel und der Beschäftigung am Boden kannte? Wie kann das Reiten auch den Pferden richtig Spaß machen?

Dann kam die Erkenntnis, dass ich bei der Suche nach einer Alternative eine Stufe weiter oben ansetzen musste. Es ging nicht um die Reitweise, sondern um die dahinter liegende Ausbildungsmethode, die leider überall gleich war. In der herkömmlichen Version ist es egal, ob man western, klassisch oder nach Herrn Sowieso reitet, überall wird der Druck erhöht, bis das Pferd macht, was man verlangt, erst dann lässt der Druck nach. Erst der Wechsel zu einer anderen Ausbildungsmethode bringt eine neue ethische Betrachtungsdimension mit sich.

Das theoretische Hintergrundwissen zu einer neuen Ausbildungsmethode brachte mein Biologiestudium mit dem Schwerpunkt Verhaltensforschung. Hier lernte ich die neuesten Erkenntnisse zum Lernverhalten der Tiere kennen. Zum ersten Mal habe ich das was ich an Schino gesehen und gefühlt habe auch verstanden, ich konnte ihm quasi beim Denken zuschauen. Er hat mir Einblicke in die Seele der Pferde gewährt.

Durch eine neue Freundschaft lernte ich Ende der 90er Jahre das Clickertraining als moderne Methode des Tiertrainings kennen. Ich war begeistert: Endlich konnte ich das machen, was ich immer schon wollte: die Pferde belohnen für das, was sie konnten. Mit Ihnen gemeinsam die Welt genießen. Mit Schino habe ich ihn zum ersten Mal erlebt, den einen ganz besonderen Moment des Verstehens während der ersten Konditionierung. Es war als hätten wir wirklich unsere schon vorher bestehende stumme Sprache der Verständigung erweitert um ein wirkliches Sprachelement, dass uns die Möglichkeit gab uns präzise miteinander zu verständigen. Er hat mir gezeigt, was die wirklich wichtige Dimension des Clickertrainings ist, es ist nicht nur eine Ausbildungsmethode, sie öffnet uns einen echten Dialog. Basierend auf dieser Grundlage habe ich meine eigene Arbeitsmethode entwickelt, die sich heute in meinem Büchern und unter pferdsein.de wiederspiegelt.

Diese Verbindung von theoretischem Wissen und praktischer Umsetzung legte den Grundstein zu meiner Arbeit. Schino hatte daran den entscheidenden Anteil. Nur durch ihn konnte ich all das ausprobieren und erleben, was positives Pferdetraining für das Pferd bedeutet.

Was Schino für mich persönlich bedeutet ist noch viel mehr, er war der Sonnenschein für mich und dafür möchte ich mich bedanken.

Du beschäftigst Dich sehr intensiv mit dem Lernverhalten von Pferden. Wie lernen Pferde nun am besten und positivsten? Und wie steht es um das Gedächtnis, das Erinnerungsvermögen von Pferden?

Pferde lernen auf sehr vielen verschiedenen Ebenen. Einen besonderen Teil nimmt dabei das soziale Lernen ein. Pferde lernen am meisten von ihren Liebsten, ihren Verwandten und den Herdenmitgliedern, aber auch von geliebten Menschen. Sie lernen immer und ständig aus den Konsequenzen ihres eigenen Verhaltens und orientieren sich dabei an ihrem persönlichen Gefühl. Positive Gefühle und Konsequenzen erinnern sie am besten, negative Erfahrungen können sie sehr stressen und ihr Verhalten hemmen.

Daher ist es meiner Meinung nach wichtig eine angenehme Lernatmosphäre zu schaffen. Da das Lernen einfach passiert und wir es nicht ein- und ausschalten können, wie es uns gerade passt, ist es wichtig, seine gesamte Lebensphilosophie am harmonischen Miteinander zu orientieren. Pferde lernen besonders schnell über Belohnungen, ein angenehmes Ansprechen, ein Streicheln oder auch ein Leckerli, ganz nach persönlichen Vorlieben. Die überraschenden Belohnungen, die Begeisterung des Menschen, all das führt zu einer intensiven Speicherung im Gedächtnis der Pferde. Einmal gelernte Zusammenhänge können Pferde auch noch nach Jahrzehnten wieder hervorholen, sie vergessen ihre Freunde nie und handeln auch aus der Erinnerung heraus höchst emotional. Daher ist es essentiell wichtig, den Stresslevel des Pferdes immer im Auge zu behalten und den Umgang mit dem Pferd in einer emotionalen Balance anzustreben.

Die erfolgreichsten positiven Pferdetrainer sind diejenigen, die die „Gesetze“ des Lernens am besten beachten und diese Handlungsregeln in die Praxis übertragen. Sie belohnen punktgenau und direkt in Folge eines erwünschten Verhaltens, verwenden in der Regel ein Markersignal, um das Verhalten des Pferdes genau markieren zu können und arbeiten in kleinsten Teilschritten. Dabei versuchen sie, das Pferd frei entscheiden zu lassen und Formen sein Verhalten nach und nach.

Was ist das Wichtigste/ Grundlegenste, was wir Menschen Deiner Ansicht nach von Pferden lernen können?

Ich glaube, dass Pferde uns lehren können unsere verschütteten Fähigkeiten zur Wahrnehmung unserer eigenen Gefühle und der anderer Lebewesen wieder zu entdecken. Als Kinder haben wir meist ein Gespür für Stimmungen, wir finden uns leicht damit zurecht auf andere zuzugehen und zu erkennen, dass eine versteckte Trauer etwa eine Rolle im Leben unseres Gegenübers spielt. Pferde sind äußerst feinfühlig, sie haben die ausgesprochene Fähigkeit empathisch zu reagieren und Beziehungen zu knüpfen. Pferde sind besonders sensibel, auch die kaum hörbaren Zwischentöne in der Melodie der Emotionen zu erfassen. Jedes Gefühl beinhaltet die Summe unterschiedlicher subtiler Gemütsregungen und gerade dieser Mix macht jede Emotion einzigartig. Wir Menschen neigen dazu Dinge denen wir keinen Namen geben können, weil sie nicht greifbar sind, weil sie uns verwirren und wir sie nicht sprachlich mitteilen können, die Bedeutung abzusprechen. Da wird dem Bauchgefühl weniger vertraut als dem Verstand. Eben weil wir nicht einschätzen können, wie die einzelnen Komponenten der eigenen Emotionen unsere Persönlichkeit bedingen.

Pferde wissen, trotz aller „natürlichen“ Kommunikation, dass wir keine Artgenossen sind und doch kann eine enge Bindung möglich sein. Wie nehmen Pferde uns Menschen wahr und warum schaffen wir es Deiner Ansicht nach – im Guten wie im Schlechten – diese großen, starken Tiere in die Kooperation und/oder Folgsamkeit zu kriegen?

Jedes Säugetier – auch wir Menschen „funktioniert“ nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten. Wir streben nach dem was uns gut tut und meiden was uns Angst macht oder verunsichert. So wird das Verhalten eines Pferdes immer dadurch verändert, wie es eine bestimmte Situation wahrnimmt. Fühlt es sich – psychisch oder physisch – bedroht, so wird es mit Meideverhalten und Stress reagieren, empfindet es etwas angenehmes, so wird es sein Verhalten freudig verstärken. Aus den eben vereinfacht dargestellt „Gesetzmäßigkeiten“ lassen sich die unterschiedlichen Trainingsformen erklären. Auf der einen Seite arbeiten Menschen mit Druckstufen, das bedeutet, sie erhöhen sukzessive den emotionalen oder körperlichen Druck auf das Pferd und setzen diesen aus, wenn das erwünschte Verhalten gezeigt wird. Oder aber sie bieten Belohnungen für erreichte Teilschritte an. „Funktionieren“ tun viele Methoden, für mich stellt sich eher die Frage, welche Vorgehensweise auch ethisch vertretbar ist. Wer möchte ich für mein Pferd sein? Jemand, dem es vertrauen kann und von dem angenehme Dinge ausgehen oder jemand, den es mehr oder weniger fürchtet? Ich jedenfalls für meinen Teil möchte keine mehr oder weniger subtilen Drohungen aussprechen und verlasse mich lieber auf die Macht der positiven Verstärkung.

Es gibt Beobachtungen von Pferdehaltern, daß Pferde sehr sensibel und wohlwollend auf melodische, beruhigende Musik reagieren. Die gemeinsame Körperarbeit am Boden zu Melodie & Takt soll die Aufmerksamkeit steigern und das Ergebnis wohl eine erhöhte Synchronisation der gemeinsamen Bewegungen von Mensch & Pferd sein. Hast Du damit Erfahrungen gemacht?

Viele Pferde reagieren stark auf Takt, Rhythmen oder einfach wiederkehrende Elemente. Sie orientieren z.B. oft ihre Atmung an der des Menschen und nehmen die damit einhergehenden Emotionen intensiv wahr. Auch die Kadenz der Bewegungen und die Energie ändert sich, je nachdem wie der Takt verschoben wird. Ein spannendes Phänomen, welches sicher schon viele von uns beobachtet haben, zu dem es aber noch wenige konkrete wissenschaftliche Erkenntnisse gibt.

Wie stellst Du Dich einem neuen Trainingspartner Pferd vor? Wie läuft der Erstkontakt mit Pferd & dem dazugehörenden Mensch ab?

Das kommt sehr stark darauf an, ob mir das Pferd langfristig anvertraut wird oder aber „nur“ für den Zeitraum eines Seminars mit mir in Kontakt steht. Während ich bei langfristigen Pferdebeziehungen komplett darauf warte, dass das Pferd einen ersten Schritt – und sei es nur einen Blick in meine Richtung, den ich mit einem kurzen Anschauen und wieder wegsehen bemerke – auf mich zu macht. Bei dem begrenzten Zeitfenster auf meinen Seminaren trete ich selbst in einen Blickkontakt und senke meinen Blick auf die Stelle an die ich in der Nähe des Pferdes treten möchte. Erst wenn es positive körpersprachliche Signale zeigt, gehe ich in einen engeren Kontakt und biete dem Pferd meine Hand zum Beschnuppern und Kennenlernen an. Als universelles Belohnungsmittel biete ich dem Pferd bei Seminaren Futter an, weil es erfahrungsgemäß die effektivste Motivation darstellt und man so so schnell wie möglich einen Zugang zu dem fremden Pferd findet. Danach etabliere ich die Spielregeln für beide Seiten und arbeite an der Futtermanier des Tieres und vor allem am Verständnis des Besitzers und entdecke individuelle Vorlieben des jeweiligen Pferdes, nach denen sich im Folgenden die Belohnungen orientieren.

Jedes Pferd ist anders, individuell wie jeder Mensch. Und doch: Gibt es bestimmte Kategorien von Pferdepersönlichkeiten/ Charaktermerkmalen, die man häufig antrifft oder schnell eingrenzen/ benennen kann – vielleicht sogar auch rassebezogen?

Ganz grob orientiere ich mich gern als erste Einschätzung, bevor ich die Persönlichkeit weiter analysiere, an der Offenheit des Pferdes. Ist es eher extrovertiert oder introvertiert? Geht es neugierig auf unbekanntes zu oder bleibt es lieber passiv im Hintergrund? Ich finde weiterhin möglichst schnell heraus welcher Motivationstyp es ist. Spielt es gerne oder wird es gerne berührt? Wenn ja wie genau spielt es und wo und wie wird es gerne berührt? Oder liebt es Futter, dann finde ich heraus welches besonders. Hat man einmal diese grundsätzlichen Vorlieben und Wesenszüge entdeckt, kann man weiter auf Entdeckungsreise in die Persönlichkeit des Pferdes gehen. Dabei ist es für mich immer wieder spannend herauszufinden, ob es eine bindungsorientierte oder eher unabhängige Persönlichkeit ist und ob es leicht Neues lernt oder seine Stärken eher im Erinnern einmal gemachter Erfahrungen liegt. Meiner Erfahrung nach sind die Unterschiede innerhalb einer Rasse oft größer als von Rasse zu Rasse. Pferde sind eben Individuen, die sich nicht einfach in Kategorien pressen lassen. Bei sehr ursprünglichen und seit vielen Jahrhunderten bestehenden „Rassen“ bzw. Pferdetypen kann man je nach ökologischer Herkunft Tendenzen erkennen. So neigen etwa „Wüstentypen“, also ursprüngliche Araber eher zum extrovertierten, bewegungsfreudigen agieren, während „Tundrenpferde“ eher die Ruhe bewahren und versuchen sich erst einen Überblick zu verschaffen, bevor sie handeln.

Pferde sollten in erster Linie Pferde sein dürfen.

Pferde sollten in erster Linie Pferde sein dürfen und dann erst Partner für Menschen. Was gehört für Dich als gute Grundlage für ein erfülltes Leben zum Pferdealltag?

Meine Internetseite heißt Pferdsein.de, weil es mir besonders wichtig ist, dass das Pferd zunächst einmal einfach sein kann wie es ist ohne dass es irgendetwas für uns Menschen tun soll. Grundlage ist für mich eine möglichst naturnahe Haltung im Offenstall mit passender Pferdegesellschaft und bedarfsgerechter Fütterung. Gerade auch die Zusammenstellung der Gruppe, das Futter- und Raumangebot muss meiner Ansicht nach immer im Auge behalten werden, um Stress zu vermeiden und jedem Pferd der Gruppe ein wirklich lebenswertes Leben zu ermöglichen.

Hast Du schon einmal ein Training abgelehnt und wenn ja, warum?

Generell möchte ich für mich persönlich nicht für Menschen arbeiten, die nicht an der Verbesserung der Lebensbedingungen des Pferdes interessiert sind. Natürlich kann niemand von heute auf morgen seine gesamte Einstellung zum Pferd, seine Haltungs- und Umgangsformen ändern, eine grundsätzliche Bereitschaft zur Mitarbeit und auch Selbstreflektion sollte aber gegeben sein. Ich lehne es ab nur an einzelnen Symptomen zu arbeiten, wenn etwa ein Pferdebesitzer bei meinen Seminaren an der Verladesicherheit des Pferdes arbeiten möchte, nur um weiter auf Turniere fahren zu können.

Hast Du schon einmal ein Pferd im Training gehabt, bei dem Du nicht weiter gekommen bist?

Das wird sicher immer wieder einmal so sein. Entweder weil zu wenig Zeit oder Geld vorhanden ist, wirklich auf Ursachenforschung zu gehen und eine neue Trainingsform intensiv zu lernen. Oder aber auch weil das Pferd gesundheitlich nicht in der Lage ist wirklich mitzumachen. Ich habe im Laufe der Jahre einige sehr schwer an unterschiedlichen Krankheitsbildern wie Borreliose oder Borna erkrankten Tiere kennen gelernt, die neben den gesundheitlichen Problemen auch schwere Verhaltensprobleme aufwiesen. Wenn überhaupt waren diese nur ganzheitlich in Zusammenarbeit mit erfahrenen Tierärzten und Therapeuten oder im Einzelfall letztlich auch gar nicht zu beheben.

Das Konzept des „Dominanz-Trainings“ ist leider nach wie vor sehr verbreitet. Auch viele namhafte sogenannte Horsemanship-Trainer, welche zwar mit Gewaltlosigkeit werben, Pferde allerdings nicht selten mit psychischem Dauerdruck in die Enge treiben, nutzen diese Einbahnstrasse. Ergebnisse wie z.B. roboterhafte & erlernt hilflose Pferde dürften Dir nicht unbekannt sein. Wie begegnest Du diesem „Trendkonzept“?

Indem ich versuche darüber aufzuklären, dass viele von den in diesen Kreisen verbreiteten Statements wissenschaftlich nicht haltbar sind und dass auch diese Konzepte auf den Grundlagen der Lerntheorien zu erklären sind. Ich schreibe vor allem in meinen Artikeln und in meinem Buch „Vertrauen statt Dominanz“ immer wieder über die erwiesenen Nachteile der Methoden, allen voran die erlernte Hilflosigkeit aber auch die Nachteile für den Menschen wie mögliche Gegenaggressionen und Vertrauensverlust. Dabei bleibe ich den Prinzipien der positiven Verstärkung treu und versuche mit den Menschen in den Dialog zu treten und Alternativen aufzuzeigen – vor allem auch indem ich zeige, dass Pferde ohne Dauerdruck wesentlich glücklicher sind.

Im Bereich des klassischen Behaviorismus gab es eine Zeitlang Strömungen, in denen Tiere eher zu – sagen wir – emotionslosen, mehr oder weniger intelligenten Reiz-Reaktions-Robotern degradiert wurden, deren Sinne ausschließlich dafür da waren, instinktiv auf etwas reagieren zu können. Die Wissenschaft bemühte sich geradezu um eine deutliche Trennlinie zum Menschen und seinen emotionalen Fähigkeiten. Jegliche Emotion wie Freude, Leid, Freundschaft wurden in instinktive Automatenmuster gepresst wie auch die gesamte Fähigkeit zu leiden, Trauer oder Angst zu empfinden. Dann kam der vorsichtige Wandel. Auf welchem Stand ist die Verhaltensforschung heute?

Sicher gibt es auch in der heutigen wissenschaftlichen Szene den ein oder anderen eingefleischten Behavioristen. Aber natürlich hat die Forschung erkannt, dass Lernen extrem komplex ist und sehr stark mit dem Fühlen, der Persönlichkeit, den Erfahrungen, dem Lebensstil und den genetischen Anlagen zusammenhängt. Schlichte Aktion – Reaktion Zusammenhänge sind sehr vereinfacht dargestellt. Die Forschung versucht mehr und mehr über die individuellen, kognitiven Fähigkeiten des einzelnen Tieres herauszufinden und bedient sich dabei der gleichen Forschungszweige wie die beim Menschen. Die heutige Verhaltensforschung blickt zusammen mit Neurobiologie, Psychologie und vielen anderen Wissenschaften interdisziplinär auf das Phänomen „Leben“. Eine Trennung zwischen Mensch und „Tier“ wird dabei zumindest unter Verhaltensbiologen äußerst selten gezogen. Wir sind alles fühlende Wesen, die denselben Ursprung haben. Eine Trennung wäre dabei willkürlich und konstruiert.

Wir haben gelernt Tiere  in Kategorien zu stecken, in denen sie bitte auch bleiben sollen. So trennen wir auch heute noch das Haus- vom Nutztier mit auffälliger Akribie. Und das Pferd? Es ist uns nah wie nie, es wird verehrt und geachtet, als Freund und  Familienmitglied geliebt und behütet und gleichzeitig vollkommen selbstverständlich gequält und missbraucht. Befindet es sich auf emotionaler Ebene zwischen dem Haus- und dem Nutztier, zwischen Liebe & Verachtung, Freund & Sklave oder auch Freud & Leid? Wo steht Deiner Ansicht nach heutzutage das Pferd im Bewusstsein der Menschen und wo geht die Reise hin?

Ich sehe leider sehr viele verschiedene Ansichten unter den Menschen, so dass ich keine klare Tendenz für die Zukunft des Pferdes in den emotionalen Ansichten des Menschen sehe. Auf der einen Seite sehe ich immer weitere Verschlechterungen für das Pferd, auch heute noch wird es ausgebeutet, „genutzt“ und eben nicht in seiner Persönlichkeit wahrgenommen. Selbst bei vielen Freizeit-Pferdeliebhabern steht und fällt die Pferdeliebe mit der Nutzbarkeit. Ein nicht reitbares Pferd ist so oft quasi wertlos und wird selbst von Leuten, die sich selbst als Pferdefreunde bezeichnen einfach ausgetauscht um ein besser funktionierendes an seine Stelle treten zu lassen. Auch der Spitzensport entwickelt sich aus meiner Sicht immer weiter in eine pferdefeindliche Richtung.

Daneben sehe ich aber dennoch eine Gegenbewegung: Menschen, die versuchen mehr für die Pferde zu tun, die sich um ihren Schutz bemühen, ihre Lebensbedingungen verbessern wollen und sich Gedanken über eine Kommunikation auf Augenhöhe machen. Und ich denke genau an dieser Stelle können wir alle gemeinsam einhaken und das Wissen verbreiten, was nötig ist, den Pferden ein pferdewürdiges Leben zu ermöglichen.

Der Pferdesport, die Zucht, die Haltung und die gesamte Pferdewirtschaft / Nutzung des Pferdes sind in vielerlei Hinsicht als „grausam“ und moralisch verwerflich anzusehen. Achtung & Respekt sind nicht unbedingt Begriffe, die man dem Sport mit Pferden zuordnen kann. Und es werden Millionen über Millionen mit dem Sportgerät bzw. der Ware Pferd verdient. Wo siehst Du die größten Probleme? Und ist Deiner Ansicht nach eine Besserung für Pferde in Sicht?

Ich sehe die größten Probleme genau in diesem maßlosen Konsumverhalten der Menschen. Denn die Millionen, die auf der einen Seite verdient werden, werden ja auf der anderen Seite zumindest durch Ignoranz oder stille Akzeptanz erst ermöglicht. Jeder, der entsprechende Veranstaltungen besucht, der sein Pferd zu solchen „Profis“ in die Ausbildung gibt, oder sonst wie daran partizipiert, befeuert das System. Eine wirkliche Besserung sehe ich da nicht, im Gegenteil: Je mächtiger einzelne Personen oder Verbände werden, je mehr Einfluss diese auf die Medien und die Jugend ausüben, desto mehr rentiert sich das System zum einen, zum anderen wird es immer weniger in Frage gestellt. Meiner Ansicht nach bleibt uns nur das Distanzieren von solchen Machenschaften, das Aufklären über die Hintergründe und das Überprüfen des eigenen Konsumverhaltens.

 Beende doch bitte folgenden Satz: „Pferde sind für mich …“

… mein Leben.


Das Interview führte Ariane Weishaupt.  www.pferdehilfe-sonnenhof.de

Mehr Informationen von und zu Marlitt Wendt unter www.pferdsein.de


DIE INTELLIGENZ DER PFERDE

Ein kluger Kopf unter jedem Schopf. Aktuelle Er­kennt­nisse aus der Kog­ni­tions­forschung und zum Lern­ver­hal­ten unserer ve­ge­ta­ri­schen Wun­der­kinder.

144 Seiten
CADMOS Verlag
ISBN 978-3-8404-1038-3
EUR 24,90

Jetzt bestellen bei  


Hier kannst Du diesen Beitrag teilen